„Mit guten Nachbarn hebt man den Zaun auf”, sagt ein deutsches Sprichwort. Doch kann ein Nachbar auch rechtlich verpflichtet werden, seinen „Zaun aufzuheben” – zum Beispiel zum Zwecke der energetischen Sanierung der Nachbarfassade? Diese Frage hat der Bundesgerichtshof (BGH) nunmehr abschließend in seinem Urteil vom 23. Juni 2022 (Az. V ZR 23/21) zu Gunsten des Klimaschutzes beantwortet. Zugleich bietet der BGH damit Anlass, auch die Frage baurechtlich erforderlicher Abstandsflächen von Windenergieanlagen neu zu bewerten.
Ausgangspunkt der Entscheidung ist eine häufig – so auch in Berlin – anzutreffende Konstellation: Der Eigentümer eines Bestandshauses möchte seine Fassade im Interesse größerer Energieeffizienz dämmen. Der stärkere Wandaufbau führt in eng bebauten Gebieten oft dazu, dass die Grenze zum Nachbargrundstück überschritten wird – in dem entschiedenen Sachverhalt um 16 cm. Dem wollte die Nachbarin nicht zustimmen, so dass man sich vor Gericht traf. Die Vorinstanzen gaben der Klägerin recht und stützten den Anspruch auf Duldung des Überbaus auf die Norm § 16a des Nachbargesetzes des Landes Berlin (NachBG Bln). Diese Vorschrift regelt, dass ein Grundstückseigentümer den Überbau über seine Grundstücksgrenze zu dulden hat, wenn sein Nachbar eine bereits bestehende Gebäudewand mit einer Wärmedämmung versehen will. Hierdurch sah sich die beklagte Nachbarin in ihrem Eigentumsgrundrecht verletzt.
Der BGH teilte im Ergebnis die rechtlichen Bedenken zur Vereinbarkeit der Vorschrift mit dem Grundgesetz. Da nach § 16a NachBG Bln der Duldungsanspruch eines Grundstückseigentümers allein davon abhängt, ob die Überbauung zum Zweck der Dämmung eines bereits bestehenden Gebäudes erfolgt, könne dies mit Art. 14 Abs. 1 GG unvereinbar sein. Es müsse nicht geprüft werden, ob der Überbau die (beabsichtigte) Benutzung des Grundstücks des Nachbarn nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt oder ob eventuell eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise (etwa durch eine Innendämmung) mit vertretbarem Aufwand möglich sei.
Letztlich waren die Zweifel des BGH aber nicht so durchgreifend, dass eine konkrete Normenkontrolle an das Bundesverfassungsgericht in Betracht gezogen wurde. Demgegenüber führte das Gericht für die Duldungspflicht ins Feld, dass die Regelung nicht allein das Verhältnis von Grundstückseigentümern untereinander betrifft, bei der es darum geht, ihre individuellen Interessen zum Ausgleich zu bringen. Vielmehr dient die Regelung vor allem dem Klimaschutz und damit einem anerkannten Gemeinwohlbelang, dem über das aus Art. 20a GG abgeleitete Klimaschutzgebot Verfassungsrang zukommt.
Dieser Grundgedanke – Vorrang des Klimaschutzes vor Individualinteressen eines Nachbarn – lässt sich auf die Planung von Windenergieanlagen übertragen und zwar wenn es um die Einhaltung bauordnungsrechtlicher Abstandsflächen geht. Entsprechend der Musterbauordnung verlangen – bis auf Mecklenburg-Vorpommern – die Landesbauordnungen, dass auch für Windenergieanlagen Abstandsflächen zur Grundstücksgrenze freizuhalten sind. Zwar sieht das Bauordnungsrecht grundsätzlich die Möglichkeit vor, Abweichungen zuzulassen, um die Abstandsflächen zu verkürzen. Jedoch schränken wiederum einige Bundesländer diese Möglichkeit durch eine restriktive Auslegung der Voraussetzungen erheblich ein. Diese Praxis wird sich – auch angesichts der Entscheidung des BGH und der zuletzt verabschiedeten Gesetzespakete zur Erhöhung und Beschleunigung des Ausbaus von Windenergieanlagen an Land – nicht mehr lange durchhalten lassen. Denn wenn Maßnahmen der energetischen Gebäudesanierung es sogar zulassen, eine Grundstücksgrenze zu überbauen, ist nicht ersichtlich, warum im grundsätzlich unbebauten Außenbereich zusätzliche Abstandsflächen zur Grenze eingehalten werden müssen und auf diese Weise dringend benötigte Flächen verschenkt werden. Es ist daher an der Zeit, wie in der Landesbauordnung Mecklenburg-Vorpommern schon umgesetzt, Abstandsregelungen für Windenergieanlagen grundsätzlich zu streichen.
Meine Empfehlungen:
Akzeptieren Sie nicht, wenn Bauaufsichtsbehörden auf Einhaltung von Abstandsflächen pochen. In der Regel sprechen schon jetzt gewichtige Gründe für die Zulässigkeit einer Planung, bei der keine oder deutlich geringere Abstandsflächen einzuhalten sind.